JKG weinsberg

Weinsberger Spätlese 1974 - Erinnerungen an Walter Rosenfelder


Vor 50 Jahren ging der Chef in den Ruhestand. Walter Rosenfelder war „der Chef“. Bei uns Schülern ebenso wie bei seinem Kollegium. Er unterrichtete Geschichte, Englisch und Deutsch. Er war gleichzeitig Schulleiter mit Herz, Pädagoge mit natürlicher Autorität, Musik-Manager, Gemeinderat, Kreistagsmitglied und Europa-Pionier. Nicht zuletzt war er ein Freund schweißtreibender Wandertage. Seine Schüler ertrugen es gerne, weil dafür der Unterricht ausfiel.

Der Geburtsjahrgang 1950 +/-1 kennt ihn besonders gut. Die 1960er-Jahre brachten gesellschaftlichen Umbruch, auch in der Schule. Für uns späte Nachkriegskinder fiel er genau mit unserer Pubertät zusammen. Zuhause fehlten die Väter. Hatten sie den Krieg überlebt, waren sie nicht selten traumatisiert. Unsere Mütter dominierten die Erziehung. Wir hatten viele Freiheiten. Die Klassenzimmer waren hingegen öfters die Bühne für wahrhaftige Dramen. Da gab es von einem Lehrer drakonische Strafaktionen für kleinste Vergehen. Und bei einem anderen durften wir im Kunstunterricht den Kassettenrekorder laufen lassen. Beatles, Beach Boys und Rolling Stones hören. Verprügelt wurden am Progymnasium Weinsberg vor allem die kleinsten Schüler. Manches Kapitel ist bis heute präsent. Walter R,m osenfelder verfolgte eine andere Pädagogik. Er hatte im Klassenzimmer und im Lehrerzimmer mit seiner glaubhaften Autorität Erfolg. Wenn er für einen kurzen Moment sein Kinn nach vorn schob und den Kopf in den Nacken legte, spannten sich seine vorderen Halsmuskeln an. Und er fand Gehör. Der Chef konnte auch locker sein, ohne dass ihm die Schüler entglitten. Er war ein Ausnahmepädagoge.

Der Pädagoge

Er war der Mann mit den grünen Heften. Die Hefte waren normal. Aber Ihr Plastikumschlag war giftgrün. Jedenfalls in unserer Klasse. Hatte der Chef einen Stapel mit 40 solchen Heften unterm Arm, wurde es ernst. Mit Umweltfragen hing die Farbe noch nicht zusammen. Eine Englischarbeit stand an. Sie wurde mit grüner Füllertinte korrigiert und brachte Freud oder Leid. Wenn die Note die Versetzung in einzelnen Fällen gefährdete, kam es vor, dass Walter Rosenfelder den Schüler (schlechte Noten in Englisch schrieben damals meist die Jungs) zum Rapport ins Rektorat bestellte. Die Versetzung rettete, wer ihm in die Hand Besserung gelobte. Nicht nur als Schulleiter zeigte der Chef Herz.

Obwohl Walter Rosenfelder angesichts seiner vielen Rollen kaum über freie Zeit verfügte, war er äußerst genau. Selbst das Tagebuch vom Schullandheim der Abschlussklasse korrigierte er. Fairerweise nutzte er dafür aber einen Bleistift. Ich glaube aber, niemand hat das wieder wegradiert.

Walter Rosenfelder war ein veritabler Musikmanager. In seinem Haus gingen die Schüler ein und aus. Sein ältester Sohn unterrichtete manche Schülerin und manchen Schüler im Geigenspiel. Im Gegensatz zu dem dabei unweigerlich entstehenden Gedudel kamen aus den anderen Zimmern wundervolle Klänge in solcher Lautstärke, dass sie die schrägen Töne der Schüler überdeckten. Alle drei Söhne sind Musiker mit Leib und Seele. Wenn sie nicht selbst musizierten, dröhnte ein Plattenspieler durchs Haus. Die Türen standen auf. Es war ein offenes Haus.

Wieso Musik-Manager? Schließlich spielte Walter Rosenfelder doch selbst Geige. Im Gegensatz zu all den übrigen Tätigkeiten begnügte sich der Chef mit der dritten Geige. Mit zwei seiner Violine spielenden Schüler saß er in der letzten Reihe. Gelegentlich spielte er etwas länger als die anderen. Der Dirigent überhörte es. Und niemand kommentierte. Viel entscheidender war sein Einsatz, mit dem er die Aufführungen des Schulorchesters platzierte. Mal auf der Burg „Die Kleine Nachtmusik“, mal im Weissenhof für eine Orange von Professor Ernst, mal in der Hildthalle, um eine Veranstaltung zu garnieren. Das machte die Schüler stolz. Und es gab einen Pluspunkt bei der Musiknote.

Briefe von der Schule waren damals blau und äußerst unbeliebt. Walter Rosenfelder schrieb aber andere Briefe. Auch darin zeigte er seine Größe. Er schrieb per Hand, nun mit blauer oder schwarzer Tinte, wenn eine Schülerin heiratete oder ein Elternteil eines Schülers starb. Oft noch viele Jahre nach der Schulzeit.

Der Europa-Pionier

In den 1960er-Jahren gab es kein Smartphone. Messages hießen noch Botschaften und im Klassenzimmer waren sie auf Zettel gekritzelt. Die flogen, zusammengefaltet, zum Hinterkopf oder an die Stirn des Zieles. Dafür genügte die Spannung eines Gummi-Rings zwischen Daumen und Zeigefinger als Antrieb. Leere Akkus waren kein Problem für die Kommunikation.

Walter Rosenfelder half uns, mangels eines Internets, größere Entfernungen zu überwinden. Er förderte Brieffreundschaften, zunächst mit England. Dieses Land bot sich für einen Englischlehrer an. Und schon mit 15 verbrachten manche die Sommerferien auf der Insel. Oder empfingen ganze englische Familien in anderen Jahren. Bald kam der Austausch mit der französischen Schweiz in Gang. Der vor allem im französischen Sprachraum bekannte spätere Schriftsteller und gewählte Stadtrat von Genf, Jean Romain, war unter den willkommenen Gastschülern. Es gab sogar einen Austausch mit Ex-Jugoslawien. Der beschränkte sich auf den Besuch einer kroatischen Lehrerin und darauf, dass Tonbänder mit Trendmusik ausgetauscht wurden. Wir schickten eine Kassette mit Aufnahmen des Medium-Terzetts („Ein Loch ist im Eimer“), weil der Chef um volkstümliche Musik bat. Sicher wären die Jugendlichen in Kroatien über unsere Favoriten aus der Beat- und Rock´n´Roll-Szene entzückter gewesen. Später war es uns peinlich.

Italien war in den 60ern das Land der deutschen Sehnsüchte. Die Reisewelle begann. Rimini oder gar Rom hießen die Urlaubsziele, sobald wenigstens ein Volkswagen in der Familie war. Walter Rosenfelder setzte andere Schwerpunkte. Sein Herz schlug für Südtirol. Für den Teil Tirols, der vor dem Zweiten Weltkrieg zu Österreich gehörte und in dem in den 1960er-Jahren von Separatisten Strommasten in die Luft gesprengt wurden. Die Autonomie Südtirols war damals noch sehr unvollständig. Nach Bozen ging es im Sommer 1966 mit dem Zug und zuletzt steil aufwärts mit Bussen zum Schullandheim in Steinegg über Bozen. Der Chef ließ es sich nicht nehmen, seine Schüler zu begleiten. Er führte uns in die Höhen des Rosengartens. Und er nahm seine giftgrünen Hefte mit für eine Englisch-Klassenarbeit. So war er halt. Es änderte nichts an dem großartigen Erlebnis. Der Aufenthalt war so prägend, dass unsere Klasse 50 Jahren später zum „Goldenen Schullandheim“ noch einmal nach Steinegg über Bozen aufbrach. Wir fanden das ehemalige Heim Hubertus wieder. Und wir ließen uns durch das Heimat-Museum im Ort führen. Dieses Mal hörten wir sogar hin. Der Chef wäre entzückt gewesen.

Walter Rosenfelder rutscht voran beim Abstieg vom Rosengarten  

 

Der Abschied

Ein Vierteljahrhundert war Walter Rosenfelder in Weinsberg als Lehrer tätig. Vor genau einem halben Jahrhundert nahm er seine giftgrünen Hefte mit in den Ruhestand. Ehrungen erhielt er mehrere. Von Carignan für den Schüleraustausch mit der Stadt in den Ardennen oder die Goldene Ehrenmünze der Stadt Weinsberg beim Abschied. Solche Trophäen verstauben irgendwann. Die Erinnerung an den Schulleiter mit Herz bleibt quicklebendig.

Karl-Heinz Schlör